Eine Massenmobilmachung der Reimpaare (1914)

Professor Borkowsky (1860 geborener Leipziger Kulturhistoriker) (in: Unser heiliger Krieg , Weimar 1914 , S. 135ff)

Schneckenburgers „Wacht am Rhein“ und Hoffmann von Fallersleben „Deutschland über alles“ waren beide schon dreißig Jahre alt, als sie der Krieg aus ihrer Erstarrung riß. Dann aber sind sie der Sang der Deutschen geworden, die ungesuchte Ausdrucksform der nationalen Begeisterung, unabhängig von allen Strömungen der Begebenheiten – unsere Nationallieder schlechthin. (…)

In Friedenszeiten sind Epos und Drama und Roman gewiß die stärksten Ausrirucksmittel des Dichters, im Kriege gilt die Lyrik mehr. Behend wie die Bleistiftzeichnung des Malers, offen wirksam und kühn wie die Skizze, läuft sie neben den Ereignissen her, holt sie ein, hält sie fest, fügt sich der Stimmung und weiß sie auch zu führen. Ernstliche lyrische Kriegsdichter werden unwillkürlich an einem großen Maßstabe gemessen. Immer steht Theodor Körner hinter ihnen. Den haben in gnädiger Stunde die Götter unserer Jugend geschenkt. Denn er war selbst der rechte Jüngling, voll Himmelsblau und Wetterschein, mit Schwert und Fiedel wie Volker von Alzey und Walther von der Vogelweide. Das Schicksal schenkte ihm die Köstlichkeit, daß er die Gesinnung seiner Lieder mit dem Blute besiegeln durfte; es riß ihn in frischer Lenzluft zum schnellen Reitertode wie Max Piccolomini.

Ethos und Pathos rannen ihm ohne Gewaltsamkeit ineinander. Wenn er im Sattel saß, wenn er am Wachtfeuer lag, kamen die Verse melodienhaft über ihn. In seiner Seele schwang die zarte Stimmung des Bräutigams, der das Schwert zur Braut erkor, der heilige Wahn des Eiferers, die Andacht des Entzückten, die Todesahnung der Geweihten. Seine Rhythmen konnten daherfahren wie rasselnde Geschwader, aber sie konnten sich auch auf die Knie werfen und sich demütigen im Gebet. Als seine Kameraden ihm das Soldatengrab gegraben hatten, sangen sie sein Lied „Hör uns, Allmächtiger!“; als sie von dannen zogen, erbrauste sein Sang von „Lützows wilder, verwegener Jagd.“ Gibt es ein seligeres Dichterlos?

In den ersten Augusttagen (1914) liefen bei einer einzigen Berliner Zeitung jeden Morgen fünfhundert Gedichte ein; die tägliche Versproduktion muß damals in Deutschland mindestens die Zahl 50 000 erreicht haben. Es war eine Massenmobilmachung der Reimpaare. Auch im Jahre 1870 erlebten die Tageblattleser solche Fruchtbarkeit. Julius Sturm schrieb damals: „Ganz Deutschland zählt kaum so viele Bajonette in diesem Krieg als Kampf- und Siegeslieder, und jeder neue Tag bringt neue wieder, und immer länger wird die lange Kette.“ (…)

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