Als der Großvater die Großmutter nahm (Auflage 1922)

Kurt Tucholsky (in: Die Weltbühne, 1.6.1922)

Mein Lieblingsgedicht ist darin – das ›Herbstlied‹ von Salis-Sewis:

Braun sind schon die Felder
Gelb die Stoppelfelder,
Und der Herbst beginnt.
Rote Blätter fallen,
Graue Nebel wallen,
Kühler weht der Wind.

Mit dem reichen Schlußvers:

Geige tönt und Flöte
Bei der Abendröte
Und bei Mondenglanz;
Schöne Winzerinnen
Winken und beginnen
Deutschen Ringeltanz.

Das kann sich neben Gedichten von Claudius sehen lassen. Und dann ist noch etwas sehr Merkwürdiges aus diesem Buche zu lernen. In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts sang Julius Freund das schöne Lied vom letzten Taler und lobte die alte Zeit: »Da war noch Sittsamkeit, Bescheidenheit … « Womit er also etwa die Gründerjahre gemeint haben mochte … Aber in den Jahren um 1870 pries man sicherlich auch die gute alte Zeit – und in dieser – zwei Generationen vorher, also um 1810 – sang Langbein:

Als der Großvater die Großmutter nahm,
Da wußte man nichts von Mamsell und Madam;
Die züchtige Jungfrau, das häusliche Weib,
Sie waren echt deutsch noch an Seel und Leib.
Als der Großvater die Großmutter nahm,
Da herrschte noch sittig verschleierte Scham …

Aber als er sie wirklich nahm – im Jahre 1747 –, da sang Hagedorn:

Zu meiner Zeit
Bestand noch Recht und Billigkeit.
Da wurden auch aus Kindern Leute,
Da wurden auch aus Jungfern Bräute,
Doch alles mit Bescheidenheit …

Und zu ›seiner Zeit‹ schalt wohl Abraham a Santa Clara über die ›Erzschelmereien‹ der neuen Läufte.

Es ist ein Volk des ewigen Gestern, dieses deutsche. Gestern, gestern, nur nicht heute … Die Geschichtsbücher bewahren nur das Gute, Edle und Schöne auf – der Alltag versinkt. Und der gelockt gekräuselte Sonntag, überliefert und sorgfältig für die Tradition gepflegt, behält sein Recht. Ja, damals –!

Als ob nicht jedes Damals relativ genau so hart, so laut und so erbarmungslos gewesen wäre wie jedes Heute, als ob nicht immer die Cäsaren, die Fugger, die Cagliostros und die Devisenhändler oben gelegen hätten! Aber objektive Geschichtsbetrachtung scheint nur möglich zu sein, wenn man an den Epochen gänzlich unbeteiligt ist – und nur der Schwächling verliert sich in der gefühlvollen Rückbetrachtung.

Heute wie damals. Wie wäre sonst der Fridericus-Wahnsinn zu erklären, der über die Geistesgestörten dieses Landes dahinbraust! Die gute alte Zeit –! Hagedorn aber nannte die von den heutigen Drahtziehern gepriesene Epoche: »O schlimme Zeit!«, und so bestätigt sich auch hier wieder, dass es die Invaliden des Lebens sind, die den Leierkasten der Erinnerung auf dem Buckel schleppen und ewig auf ihm werkeln.

Siehe dazu auch:

Volksmusik nach Themen

Jazz in Deutschland - Kriegserziehung im Kaiserreich - Kriegslieder - Lied und Erster Weltkrieg - Linktipps - Neuigkeiten - Volkslied-Forschung - Verschiedenes - Volksliedbücher - Volkslieder - Volksmusik Praxis -