Ein Besuch in Barackia

Berliner Lebensbild

Max Ring (in: Die Gartenlaube, Heft 28, 1872)

„Wir haben aber doch Asyle für Obdachlose und das Arbeitshaus, welche für solche traurige Fälle eine Zuflucht bieten,“ wandte ich dagegen ein.

„Wie der Augenschein lehrt, reichen diese Anstalten nicht aus. Das Asyl für Obdachlose, welches der Privatwohltätigkeit seine Entstehung verdankt, gewährt nur für eine, höchstens für drei Nächte ein Unterkommen. Das Arbeitshaus ist eigentlich nur eine Strafanstalt für arbeitsscheue Vagabunden und liederliche Dirnen. Man kann es daher dem ehrlichen Arbeiter und fleißigen Handwerker nicht verdenken, daß er nur im Fall der äußersten Not sich dahin wendet, weil er die Berührung mit solchem Gesindel scheut, abgesehen von dem niederdrückenden und entsittlichenden Einfluß einer derartigen Gesellschaft.“

„Aber was soll, was kann geschehen, um dem Übel abzuhelfen?“ fragte ich meinen Freund, der im Laufe unserer Unterhaltung immer ernster geworden war.

„Was schon hundertmal gesagt und gelehrt worden ist. Der Staat, die Stadt, die ganze Gesellschaft hat die Pflicht und das Interesse für billige Arbeiterwohnungen zu sorgen. Warum gründet man keinen Verein zu diesem humanen Zweck? – Da dies bisher noch nicht geschehen ist, so haben die armen Leute instinktmäßig das Prinzip der Selbsthülfe angewendet und damit den einzig richtigen Weg eingeschlagen. Vielleicht wird dieser an sich so traurige Vorfall die segensreichsten Folgen haben und den heilsamen Anstoß zu einer dauernden Abhülfe dieser Notzustände geben.“

Unter solchen Gesprächen wanderten wir an dem „Tempelhofer Ufer“ entlang vor das Hallische Tor. Unser Ziel war der sogenannte Kottbuser Damm. Auf dem Wege dahin gingen wir durch eine Reihe erst vor Kurzem entstandener Straßen, welche von Neuem ein Zeugnis für den zunehmenden Wachstum, für die Wohlhabenheit und den Unternehmungsgeist der Residenz ablegen. Zu beiden Seiten des von reich beladenen Schiffen und Spreekähnen belebten Kanals erblickten wir die schönsten Häuser, prachtvolle Paläste, kolossale Fabrikanlagen, reizende Villen, von freundlichen Gärten umgeben, ein wirklich herzerfreuendes Schauspiel.

Die Barackenstadt von Berlin. (Nach der Natur aufgenommen von L. Loeffler.)

Zu unserer Linken erhoben sich mehrere stattliche Gebäude, die Gasanstalt bildend, zu unserer Rechten zwei mächtige Casernen, in denen bequem und gut einige hundert Familien wohnen können, etwas weiter imponierte uns ein wahrer Prachtbau im gothischen Stil mit Spitzbögen und durchbrochenen Türmchen, worin verwahrloste Kinder von Verbrechern und jugendliche Sträflinge nach ihrer Entlassung gebessert werden sollen. Dahinter dehnte sich die bekannte „Hasenhaide“ mit ihren zahlreichen Brauereien und Vergnügungslokalen aus, wo das Volk beim Bockbier sitzt und die verrufenen „Louis“ freundliche Messerstiche austeilen. Allmählich verschwanden die Straßen und Häuser; es folgten mehrere große Holz- und Kohlenplätze, endlich nur noch Wiesen und Felder, die mit Korn und Kartoffeln spärlich bepflanzt waren.

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