Ein Besuch in Barackia

Berliner Lebensbild

Max Ring (in: Die Gartenlaube, Heft 28, 1872)

„Ich möcht’ nicht zurücktauschen,“ sagte er treuherzig. „Sehen Sie, meine Herren! Ich bin Tuchwalker und habe immer so viel verdient, wie ich brauchte. Aber jetzt geht es nicht mehr; die Mieten sind zu hoch und die Wirte zu ausverschämt. Ich soll für ein Kellerloch und für eine kleine Küche in der Adalbertstraße neunzig Thaler geben. Das bin ich nicht im Stande, und d’runter gibt es nichts. Da hab’ ich mir lieber hier die Baracke gebaut; die Bretter kosten vierundzwanzig Taler, für den Grund zahl’ ich bis Michaeli drei Thaler. Dafür wohn’ ich wie ein Fürst, habe zwei anständige Stuben, lebe in gesunder Luft und brauche mich nicht vom Wirte schinden und noch obendrein schikanieren zu lassen.“

„Aber im Winter, bei schlechtem, rauhem Wetter?“ versetzte ich bedenklich.

„Davor fürchten wir uns nicht. Wir bedecken die Bretter mit Rasen und Gerberlohe; das gibt warme Stuben, und dann inkommodieren uns auch nicht mehr die Fliegen,“ fügte er gutgelaunt hinzu.

Ähnliche Äußerungen hörten wir wiederholt von den verschiedensten Bewohnern der Baracken, die uns fast ohne Ausnahme als ordentliche und verständige Leute erschienen und durchaus nicht wie Herumtreiber sich anließen. Wer daher in Barackia Mysterien à la Eugen Sue, Verbrechergestalten, Vagabunden und ähnliches romantisches Gesindel sucht, der dürfte sich getäuscht finden. Ebenso wenig entdeckten wir wirkliche Not, noch das Elend und den Jammer eines verkommenen Proletariats, sondern eher das Gegenteil. Die Männer arbeiteten, die Frauen waren einfach, aber sauber gekleidet, die Kinder sahen gesund und reinlich aus. Fast Alle sprachen mit Befriedigung über ihre jetzige Lage, und gewöhnlich hörten wir den Wunsch äußern, dass sie es nie besser haben wollten und gern immer hier wohnen möchten.

Auf unsere Erkundigung erfuhren wir, dass der Boden, worauf die Niederlassung steht, die „Schlächterwiese“ heißt und ursprünglich der Stadt Berlin gehört. Ein Herr Bohm, welcher das Terrain vom Magistrat gepachtet, hat aus Mitleid den obdachlosen Leuten gegen einen mäßigen Zins von sieben und einem halben Silbergroschen für die Quadratruthe die Errichtung von Baracken gestattet. Nach und nach haben sich gegen siebenzig Familien angesiedelt, deren Zahl jedoch noch täglich zunimmt. Einzelne dieser Hütten verraten allerdings noch einen höchst primitiven Zustand, dagegen ist die Mehrzahl nicht nur wohnlich, sondern selbst komfortabel eingerichtet und bietet mit den zierlichen Anpflanzungen, Gemüsebeeten und Blumenanlagen das freundliche Bild einer improvisierten Sommerwohnung in freier Natur und ländlicher Umgebung.

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