Ein Besuch in Barackia

Berliner Lebensbild

Max Ring (in: Die Gartenlaube, Heft 28, 1872)

Aber nicht nur Menschen, sondern auch Thiere finden in diesen Baracken ein freundliches Asyl. Vor den meisten Hütten lagen Hunde, welche vor herumstreifenden Strolchen die unverschlossenen Thüren bewachen. Auf dem Rasen der Dächer spielten zahme Kaninchen und Katzen im goldenen Sonnenschein. Selbst zwei Pferde besaß bereits die Colonie, und Herr Blohm war gerade, als wir ihn aufsuchten, mit der Errichtung eines Nothstalles für dieselben beschäftigt. Die Thiere gehörten einem Arbeitsmann, der sie zum Transport von Waaren, Sand und Steinen benutzt. Da er ungeachtet aller Anstrengungen keinen Stall in Berlin finden konnte, so hatte er seine Pferde nach dem Cottbuser Damm gebracht, wo sie vorläufig eine Nacht unter freiem Himmel campiren mußten.

Ganz besonders interessirte uns, das gegenseitige Verhalten der Ansiedler zu beobachten. Die unmittelbare Nachbarschaft, die hier herrschende unbedingte Oeffentlichkeit aller Verrichtungen, die zwanglose Lebensweise ließ uns annehmen, daß manche Uebelstände sich daraus entwickeln und leicht Veranlassungen zu Streit und Zank sich einstellen müßten. Nach den von uns eingezogenen Erkundigungen ist dies keineswegs der Fall. Zwischen den verschiedenen Familien herrscht, mit seltenen Ausnahmen, ein durchaus freundlich höflicher Verkehr. Wie wir selbst bemerken konnten, spricht kein Nachbar von und mit dem andern, ohne ihm den Titel „Herr“ zu geben, und auch die Frauen beobachten in noch höherem Grade eine gewisse Etiquette im Umgang. Die Kinder vertragen sich und waren so artig, daß sie unsere Bewunderung erregten. So lange wir verweilten, hörten wir kein rohes Wort, weder Zank noch Lärm. Vielleicht wirkt gerade die Oeffentlichkeit, das Gefühl der gemeinsamen Noth und selbst ein gewisser Märtyrerstolz in dieser Beziehung vorteilhaft.

Allerdings scheint es auch in Barackia nicht an Conflicten ganz zu fehlen, da zwischen den getrennten Colonien eine Art Eifersucht herrscht und sich auch hier der deutsche Nationalcharakter, der angeborene Individualismus und Sondergeist, geltend macht. So wollte der Präsident Schmidt um keinen Preis uns nach der Colonie des Herrn Blohm begleiten, an deren Grenze er sich von uns verabschiedete, so daß wir ein gespanntes Verhältniß zwischen den beiden Würdeträgern annehmen durften. Bis jetzt hat aber die Berliner Polizei noch keine Veranlassung gehabt, sich in die inneren Angelegenheiten der neuen Republik zu mischen. Wir selbst wurden in keiner Weise belästigt und von keinem Bettler angehalten, obgleich bei dem zahlreichen Besuch wohlhabender Fremden die Versuchung nahe liegt. Nur ein alter, augenscheinlich verkommener Mann sprach uns um eine kleine Gabe an, wobei er sich aber vorsichtig umsah, als fürchtete er von seinen Mitbürgern belauscht zu werden. Leider zeigt sich bereits auch in Barackia die herrschende Speculationswuth. Unterhändler pachten von Herrn Blohm einzelne Parcellen, die sie zu höheren Preisen an die jüngsten Ansiedler vermiethen; andere übernehmen gleichfalls mit entsprechender Provision den Bau der Hütten, woraus allerdings Zwistigkeiten entstehen, die den bisherigen Frieden zu stören drohen.

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