Friedrich Silcher (100 Jahre)
Wiedererwecker des deutschen Volksliedes.
Von Benedikt Widmann (in: Die Gartenlaube, 1889, Heft 29, S. 496–499)
„Aennchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!“
Nicht weniger zutreffend ist die harmonische Behandlung der Volksmelodien zu den Liedern: „Steh ich in finstrer Mitternacht“, „Soviel Stern’ am Himmel stehen“, „Was hab’ ich denn meinem Feinsliebchen gethan?“ u. a. – An diesen wie an vielen andern Volksliedern läßt sich unzweifelhaft der ursprügliche Einfluß der Weisen erkennen, welche den eigenthümlichen Gefühlen, Empfindungen und Anschauungen der Volkslyrik in der Anlage des Ganzen bis zu einzelnen Wendungen und Worten herab eine eigene Grenze ziehen.
„Das Volkslied ist nämlich fast immer nur Gelegenheitsgedicht; d. h. es bezieht sich auf einen bestimmten Vorfall, auf ein Erlebniß des lebendig davon berührten Dichters selbst wie dessen Umgebung; es setzt daher gleich vieles als bekannt voraus, schweigt darüber oder deutet dasselbe nur kurz an.“ Die Bestimmung und Wirkung der Melodie besteht eben nur darin, das im Worte nur Angedeutete ganz der Gefühlswelt zu erschließen, ohne es doch breit auszumalen.
Die tiefe Schwermuth, welche als Grundstimmung in den Abschiedsliedern liegt, hat Silcher besonders gut getroffen. Es sei hier nur an das „Lebewohl“ aus „Des Knaben Wunderhorn“:
„Morgen muß ich fort von hier
Und muß Abschied nehmen“
erinnert, dessen Melodie und Satz bei aller Einfachheit durch die glückliche Erfindung reizender wehmuthsvoller Motive uns so sehr ansprechen. „Solche Weisen pressen auch aus dem welken Herzen noch einen Blutstropfen aus.“
Daß Silcher auch ein richtiges Verständniß für das alte deutsche Volkslied hatte, bewies er durch die vortreffliche vierstimmige Bearbeitung des „Abschiedsliedes“ aus dem 14. Jahrhundert:
„Ich fahr dahin, wenn es muß sein,
Ich scheid mich von der Liebsten mein …“
Einen Gegensatz zum Abschiedsliede bildet in Hinsicht auf Inhalt, melodische und rhythmische Form das Tanzlied. Bei unsern Minnesängern sind solche Lieder in großer Anzahl unter der Bezeichnung „ein tanzwis“ anzutreffen. Der ursprüngliche Charakter derselben wird als „heiter, scherzhaft, vorwiegend erotisch“ bezeichnet; oft waren es kleine Liebesgeschichten, welche darin besungen wurden. Gerade zu dieser Gattung zählt die Perle unter Silchers musikalischen Erfindungen, die Melodie zu Heines „Lorelei“.
„Diese Ballade ist von so wunderbarer Schönheit, Ursprünglichkeit, solch unnachahmlicher Einfachheit, Wahrheit und volksmäßiger Färbung, daß wir nicht anstehen, sie für eines der schönsten aller Volkslieder zu erklären, die es überhaupt giebt: wer sie komponieren konnte, der war sicherlich ein Liebling der Musen,“ schreibt W. Amman, Silchers Landsmann, in der „Euterpe“ (Jahrgang 1860, S. 152). Kaum ist noch ein Dörfchen in Deutschland zu finden, wo nicht die „Lorelei“ gesungen wird, und dies ist wohl der beste Beweis für die Echtheit der volksthümlichen Stimmung, von der das Lied getragen wird.
Volksmusik: Biographien
Liederzeit: 1871-1918: Deutsches Kaiserreich
- Silcher, Friedrich (Author)
Siehe dazu auch:
- Johannes Cotta (Portrait) ()
- Julius Otto: Das treue deutsche Herz (Allgemein)
- Wer war Ännchen von Tharau? ()