Schlesische Volkslieder: Vorwort von Ernst Richter
Ernst Richter (in: Schlesische Volkslieder, 1842. Vorwort)
Ich habe mich mit mancher Melodie Wochenlang herumgetragen ehe ich bei der Lückenhaftigkeit und Verkehrtheit der Aufzeichnung das Richtige ermitteln konnte ja es ist mir dabei schier wie beim Componieren ergangen ich mußte dem günstigen Augenblicke für die Entzifferung der Melodie lange entgegenharren Oft hatte ich dann aber auch die Freude die Melodie nach einer andern Aufzeichnung so zugeschickt zu erhalten wie ich sie entzifferte Gleichwohl muß ich gestehen daß ich unsere Lesarten der Melodien nicht durchweg für die besten zu halten geneigt bin doch konnte und wollte ich aber auch nichts anderes geben als das was ich aus dem Munde des schlesischen Volkes selbst habe
Das Volk aber wie ich durch mannichfaltige Beobachtungen erfahren habe erfindet nicht blos sondern es bildet auch die Melodien um es macht sich dieselben finn und stimmgerecht Wo ich für einen Text heterogene oder auch nur abweichende Sangweilen vorfand hielt ich es für Pflicht diese neben einander zu stellen was Freunden der Volkslieder wohl willkommen sein dürfte Die Melodien so wie die Texte gehören verschiedenen Zeitaltern an z B Nr 38 ist augenscheinlich aus neuerer Zeit doch ist in den Liedern unserer Sammlung die Dur Tonart vorherrschend Melodien in Moll find nur einige und nur in einer Nr 18 erklingt am Anfange ganz im Sinne des Tertes der trübe Moll Dreiklang während alles andere im heitern Dur steht
Zwei Nummern 139 und 283 gewiß sehr alt erinnern in ihren Modulationen an alte Kirchen Tonarten wie bedeutsam wendet sich z B die letztere bei den Worten da trauerte Alles was da was und wie wehmüthig senkt sich die erstere dreimal nach der Harmonie der Dominante bis sie sich im Ueberströmen des Gefühls bei den Worten hat meiner nicht gedacht Dur zuwendet und in die frühere Wehmuth zurückverfinkend in der Haupttonart schließt Wie in unserm Volke ein Kern der Weisheit verborgen liegt der nicht bloß im Sprüchworte als der Weisheit auf den Gaffen sondern im praktischen Leben bei den mannichfaltigsten Veranlaffungen hervortritt so lebt im Volke auch ein Kunstsinn der den Beobachter oft zum Staunen fortreißt
Wie viele Tonkünstler mag es wohl geben die bei aller ihrer Kunst Lieder erklingen laffen welche so mächtig das Volk ergreifen und so tief in des Volkes Herz eindringen daß sie noch nach Jahrhunderten freudig wiederklingen Mir find die Stunden in denen ich dem Sange unters Volkes lauschte und ihm nachdachte höchst genußreich gewesen Möchte es mir gelungen sein die Freunde des Volksgesanges durch diese Sammlung und Aufzeichnung von Melodien einigermaßen befriedigt zu haben Beurtheilern dieser Sammlung welche mit den vielen Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens bekannt sind die freundliche Bitte um schonende Beurtheilung wenn es mir bei meinem Streben nicht gelungen sein sollte ihren Ansprüchen und Erwartungen zu genügen
Volksmusik: Volksliedbücher
Ort: Breslau
Siehe dazu auch:
- Allgemeines Schweizer Liederbuch (Vorwort, 1828) ()
- Allgemeines Schweizer Liederbuch (Vorwort, 1833) ()
- Als der Großvater die Großmutter nahm (Auflage 1922) ()
- Die Bedeutung des Liedes für die Auswanderung (Auswandererlieder)
- Einleitung: Demokratische Volkslieder ()
- Geschichtliche Entwicklung der Heimathymnen ()
- Kinderlieder ()
- Ministerium stoppt Bundeswehr-Liederbuch ()
- Mitteilung über das niederdeutsche Volkslied „Burlala“ (=Peterlein) ()
- Neue Soldaten- und Marschlieder (1916) (Allgemein)
- Schlesische Volkslieder (1842): Vorwort ()
- Schulfibel Anno Dazumal (Allgemein)