Steinitz IV: Was ist ein Volkslied?
Wolfgang Steinitz (in: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Band I, 1954, Seite XXV f)
Lenin hat in Gesprächen direkt auf die russische Volksdichtung hingewiesen, wobei er an die Tradition der revolutionär-demokratischen Schriftsteller und Kritiker der 1850er Jahre, Belinski, Tschernyschewski und Dobroljubow, anknüpfen konnte, die die
Rekrutenklagen und die Anklagen der um die Beseitigung der Leibeigenschaft kämpfenden Bauern als einen wesentlichen und besonders wertvollen Teil der russischen Volksdichtung erkannt hatten. Die sowjetische Folkloristik hat diese fortschrittliche nationale
Tradition ihrer Wissenschaft weiter entwickelt und in den letzten beiden Jahrzehnten wichtige Arbeiten über die Rolle der Volksdichtung im Kampf der russischen Arbeiter ıınd Bauern vorgelegt.
In Lenins angeführten Worten ist sowohl die schöpferische Fähigkeit der werktätigen Massen klar hervorgehoben wie auch die große Rolle, die die Kultur der herrschenden Klasse eben als herrschende auf die unterdriickten Massen ausübt, erkannt und objektiv
dargestellt. Auch im deutschen Volkslied lassen sich die schöpferischen Fähigkeiten der Werktätigen einerseits, die eigenartigen Verflechtungen und Beziehungen zwischen dem Iiied der werktätigen und der herrschenden Klassen andererseits aufzeigen.
Das Volkslied als ideologische Waffe
Das Volkslied stellt in dem jahrhundertelangen Kampf in Deutschland zwischen leibeigenen und Feudaladel, zwischen Arbeitern und Kapitalisten, zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern eine wichtige ideologische Waffe dar, die von beiden Seiten in ihrem
Kampf bewußt angewandt worden ist. „Ich rat euch, Brüder alle, folgt nicht der Trommel Ton“ ist, wie schon erwähnt und in Nr. 168 eingehender dargestellt, ein anschauliches Beispiel dafür, wie die militaristischen Kreise versuchten, ein gegen den Militarismus
gerichtetes, im Volk sehr beliebtes und weit verbreitetes Lied für ihre Zwecke auszunutzen und in seiner Tendenz ins Gegenteil umzubiegen — freilich ohne daß diese neue „Redaktion“ beim Volke Anklang fand.
Das gleiche gilt von dem ungewöhnlich beliebten. in weit über 200 Aufzeichnungen vorliegenden oppositionellen Rekrutenlied „Wie ist doch die Falschheit so groß in der Welt“, bei dem nur ein winziges Grüppchen, etwa 5 Fassungen, einen promonarchistisch-promilitaristischen Inhalt aufweist (s. Nr. 139).
Eine andere Methode war, den demokratischen Liedern ihre schärfsten Zähne auszubrechen und sie zu verharmlosen; das ist, abgesehen von den schon erwähnten fliegenden Blättern, bei vielen unten behandelten oppositionellen Soldatenliedern (z. B. Nr. 139, 145, 168), bei Bauernliedern (Nr. 20), bei Bergarbeiterliedern (Nr. 105) u. a. festzustellen.
Volksmusik: Steinitz Volkslieder
Liederzeit: 1945-1989 Deutschland Ost
Siehe dazu auch:
- Einleitung: Demokratische Volkslieder ()
- Steinitz II: Demokratische Volkslieder ()
- Steinitz III: Volkslieder und Zensur ()
- Steinitz V: Die Volksliedforschung ()
- Steinitz VI: Das Volkslied im Kaiserreich ()
- Steinitz VII: Das andere Volkslied ()
- Steinitz VIII: Zur Anlage des Werkes ()
- Steinitz XI: Work in Progress ()