Steinitz IV: Was ist ein Volkslied?
Wolfgang Steinitz (in: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Band I, 1954, Seite XXV f)
Daß der schwere Druck, den die herrschenden Klassen in geistiger Beziehung – durch ihren gewaltigen ideologischen Apparat – seit dem Mittelalter auf die unterdrückten Werktätigen ausübten, nicht ohne Auswirkungen blieb, ist selbstverständlich. Wäre es
anders gewesen, hätten nicht Lehren wie die vom „geduldigen Ausharren auf Erden“, sondern der kämpferische Geist von „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“ das gesamte werktätige Volk beherrscht, so hätte die deutsche Geschichte
– wie auch die Geschichte der anderen Völker – schon seit Jahrhunderten einen anderen Verlauf genommen. Es gibt also auch in dem von den Werktätigen getragenen Liedgut Lieder, die objektiv die Interessen der Unterdrücker, nicht die der Werktätigen widerspiegeln. Dies gilt besonders von Soldatenliedern und Bergarbeiterlíedern.
Daß sich ungeachtet des allgemeinen ideologischen Druckes von oben sowie der besonderen Verfolgungen der oppositionellen Lieder dennoch so viele ausgeprägt demokratische, oppoèitionelle Lieder erhalten haben, beweist noch einmal die große Bedeutung,
die sie für das geistige Leben des Volkes besaßen. Obwohl die Zahl derartiger überlieferter Lieder im Verhältnis zur Zahl der überlieferten Volkslieder überhaupt nicht sehr groß ist, ist ihr Gewicht bedeutend. Hinzu kommt, daß der große andere Teil der Volkslieder, insbesondere die der Lebensfreude des Volkes Ausdruck gebenden Lieder, in keiner Weise im Gegensatz zu diesen demokratischen Volksliedern steht.
Die bisherige deutsche Volkskunde hat ihren Forschungsgegenstand, das werktätige Volk, im wesentlichen als ein in feste Traditionen gebundenes, konservatives, daher auch Obrigkeit und Kirche treu ergebenes Wesen gesehen. Dies entspricht aber nicht der historischen Wahrheit.
Der selbstbewußte kämpfende Bauer, wie er im Karsthans der fliegenden Blätter 1521 zum ersten Mal literarisch und 1525 im Bauernkrieg machtvoll in der Geschichte auftritt; der deutsche Bauer, der sich auch in den folgenden Jahrhunderten in unzähligen Bewegungen und Aufständen, die von der Geschichtsforschung noch viel zu wenig untersucht und iiberhaupt noch nicht zusammenfassend dargestellt sind, gegen Leibeigenschaft und Feudalherren empört; der deutsche Bauer, der an der 1848er Bewegung in Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen, Schlesien usw., Wo sich die Bauern gegen die fortdauernden Feudallasten erhoben und die Grundbiícher verbrannten, aktiv teilnahm – dieser sich gegen die schlechten Traditionen der Herren wendende und für Freiheit kämpfende Bauer ist von der bisherigen Volkskunde fast völlig vergessen worden.
Wertvolle Traditionen
Wieviel packender aber ist das um seine Freiheit kämpfende und dabei seine wertvollen Traditionen weitertragende Volk! Unter den vielen Verdiensten John Meiers ist es nicht das letzte, daß er sich mit den revolutionären Liedern aus dem Vormärz und von
1848 beschäftigt und in den von ihm herausgegebenen Band „Volkslieder von der Mosel und Saar“ auch Lieder der streikenden Bergarbeiter von dem großen Streik 1889 aufgenommen hat.
Volksmusik: Steinitz Volkslieder
Liederzeit: 1945-1989 Deutschland Ost
Siehe dazu auch:
- Einleitung: Demokratische Volkslieder ()
- Steinitz II: Demokratische Volkslieder ()
- Steinitz III: Volkslieder und Zensur ()
- Steinitz V: Die Volksliedforschung ()
- Steinitz VI: Das Volkslied im Kaiserreich ()
- Steinitz VII: Das andere Volkslied ()
- Steinitz VIII: Zur Anlage des Werkes ()
- Steinitz XI: Work in Progress ()