Hat aber auch Goethe unleugbar die Farben und die ganze Stimmung seinem Vorbilde entlehnt, so bleibt doch die Komposition die echt Goethe’sch ist und an andere Jugendgedichte des Meisters erinnert, sein Eigentum. Wenden wir uns zum Inhalte des Liedes: Goethe’s Heidenröslein und das ihm zum Vorbild dienende alte Volkslied sind allegorische Gedichte. Beide behandeln unter dem Bilde eines Rösleins das Geschick eines jungen Mädchens, das einem von leidenschaftlicher Liebe entbrannten Jünglinge trotz versuchter Gegenwehr sich ergeben muß. Denn das von Rosenbrechen im wörtlichen Sinne nicht die Rede ist, folgt unwiderleglich aus Zeile 18, wo Goethe das Bild der alten Ausgabe verlassend schreibt: „Half ihr doch kein Weh und Ach!“

Erst später (1825) verwandelte er das Wort „ihr“ in „ihm“ was sprachlich richtiger ist, aber beide Ausdrücke beziehen sich doch aufs Röslein, nicht auf den Knaben. Weniger verhüllt ist der Schluß der älteren Fassung: Auch hier wehrt sich das Röschen (= Mädchen) gegen die ungestüme Liebeswerbung des Knaben, aber als ihr Widerstand gebrochen, als sie nach allem Sträuben sich hat ergeben müssen, so vergißt sie ihr Leiden im Vollgenuß sinnlicher Lust.

Herder scheint dies Heideröslein-Gedicht nur flüchtig angesehen und den Sinn des Liedes gar nicht verstanden zu haben, als er es 1773 drucken ließ. Er führt es mit folgenden merkwürdigen Worten ein: „Zu unsern Zeiten wird so viel von Liedern für Kinder gesprochen, wollen Sie ein älteres deutsches hören. Es enthält gar keine transcendente Weisheit und Moral, mit der die Kinder zeitig genug überhäuft werden, es ist nichts als ein kindisches Fabelliedchen. „Es sah ein Knab ein Röslein stehn“ (folgt der Abdruck der Fassung A).  Zum Schluß fügt Herder hinzu: Ist das nicht Kinderton ?

Herder hat also trotzdem durch die Worte „es vergaß beim Genuß das Leiden“ die Deutung nahegelegt war, dennoch durch „das kindische Ritornell“, wie er den Refrain nennt, sich bestimmen lassen, in dem Gedichte ein unverfängliches Kinderlied zu sehen. Bis heute spielt dieses Liebeslied nicht bloß im Koncertsaal mit Schubert’s Musik, sondern auch in Schulliederheften eine große Rolle und ist unter allen Liedern Goethes das populärste geworden. Mag es unbedenklich in den Schulen fort gesungen werden, denn die Jugend hält es mit Herder für ein einfaches Naturliedchen, mit einer Geschichte, die sich zwischen einer Rose und einem Knaben begeben hat.

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