Vorrede zu Deutscher Liederhort

Ludwig Erk (in: Deutscher Liederhort, Vorrede, August 1853)

Bei jeder Melodie sind Boden, Ort, Gegend, welchen sie entsprossen, genau angemerkt und zwar bis ins kleinste, was bisher so oft zum Nachteil der Forschung fortgeblieben ist. Auf diesem Wege der mündlichen Tradition, der ich seit dreißig Jahren mit Vorliebe nachgegangen, ließe sich noch Vieles zu Tage fördern, wenn Sachkundige, besonders Lehrer, sich ihrer Erforschung widmen wollten. Wo! sagt der edle und verdiente A. von Arnim, Wunderhorn, im I. -Bande S. 464: „Wär ich ein Bienenvater, ich würde sagen, das war der letzte Bienenstock, er wollte eben wegschwärmen, es hat uns wohl Mühe gemacht, ihn im alten Hause zu sammeln.“ Und in demselben Sinne mahnt Gräter (Bragur Ill, 263): »Wahrlich, es ist hohe Zeit, unsere Volkslieder zu sammeln. Es verschallt eins nach dem andern.«

Aber trotzdem ist die mündliche Tradition stark genug, durch sie noch Schätzbares zu erlangen, Unvollkommenes der früheren Überlieferung durch diesen immer sprudelnden Quell zu läutern, seis am Text, seis an der Melodie.

Daß ich auf diese zunächst den größeren Wert gelegt, ist aus meinem überwiegend musikalischen Standpunkte, aus den eigentümlichen Studien wohl erklärlich, und in dieser Hinsicht von Musikern mit eingehendem, nicht mit obenhin absprechendem Urteil geprüft zu werden, ein verzeihlicher Wunsch. Ich meines Teils denke, daß sich aus dem Volksliede noch Manches, was bisher ungewürdigt, für die Theorie der Musik ergeben muß. So, um nur dieses einen Punktes zu erwähnen, die rhythmische Seite, welche durch die leichtere Übertragung des sprachlichen Rhythmus auf den musikalischen eine große Manichfaltigteit der Erscheinungen bietet. Resultate dieser Forschungen auf rhythmischem, melodischem und harmonischem Gebiete hoffe ich später nach Vollendung dieses Werkes ausführlicher darzulegen.

Wiewohl nun Neigung und Berufstätigkeit meine Aufmerksamkeit vorzüglich auf die Melodie gerichtet, so ist der Text mir weder gleichgültig gewesen noch durfte er an sorgfältiger Pflege zurückbleiben. Bei jedem einzelnen Liede wird hoffentlich wahrgenommen werden, wie sehr ich durch Prüfung des Vorhandenen genaue Worte und gesicherte Lesarten zu geben mich beflissen. Kein einziger Text ist ununtersucht geblieben; an manchen ist die Arbeit von Tagen, nicht von Stunden gewendet. Nicht geringe Not haben die sogenannten Mischlinge (vgl. z. B. S. 365) gemacht, welche in neuerer Zeit, mit dem Zurückweichen der Tradition, immer häufiger geworden, und bei denen Trennung und Auseinanderhalten um so schwieriger ist. Ihre genaue Kenntnis ist nur dadurch zu erzielen, daß das Lied in möglichst vielen und in den verschiedensten Gegenden aufgenommen werde; denn die jetzige Zeit begnügt sich leider zu sehr mit dem fragmentarischen Singen der Lieder, deren Ganzes zu erhalten keine leichte Mühe ist. 1

  1. „Die Kunst, Lieder aus dem Munde des Volkes zu sammeln, besteht in dem, das
    Geschäft des Kunstrichters einschließenden Bienenfleiße: über Ein und dasselbe Lied nicht bloß Einen Mund, und zwar mehr als Einmal, in bedeutenden Zwischenräumen zu vernehmen, sondern es Vielen — ja, wenn es möglich wäre, Allen abzufragen, die es besitzen, und die verschiedenen Sänger gleichsam als eben so viele, mehr oder minder reichhaltige, leserliche und abweichende Handschriften zu betrachten, aus denen sich der Text zusammentragen, und durch sorgfältige Vergleichung in seiner möglichstschönen Gestalt herstellen lasse.« (J. G. Meinert, Alte teutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens. S. IX.)

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