Von wem haben denn die Kinder das Liedchen, das sie drunten so neckisch singen und mit so anschaulichen Gebärden begleiten, das Liedchen: „Wollt ihr wissen, wie der Bauer, wollt ihr wissen, wie der Bauer seinen Samen ausstreut?“ — Nun von ihren Eltern, die haben’s gesungen, als sie klein waren. Und die? Auch von ihren Eltern. Und die? Wiederum von ihren Eltern, und so fort. Diese Kinderliedchen reichen, sofern man ihnen nicht beim ersten Blick die Jugend ansieht, meist weit hinauf in die gute alte, ja bis in die beste älteste Zeit. Gerade durch diesen Schatz echter Kinderdichtung, das Zeichen einer häuslichen, mütterlichen Erziehung, ist die alte Zeit vielleicht auch die gute Zeit, während in unsren Tagen, wo das Süßgebäck kraftloser Jugendgeschichten das reine Brot der Kinder- und Hausmärchen schier verdrängt, die Jugend immer mehr Sinn und Gedächtnis verliert für die schlichten Reimlein, nach denen ihre Eltern und Großeltern und Urgroßeltern gehüpft und getanzt haben.
Darum gilt es eben zu retteu, was sich noch hier und da erhalten hat von dem köstlichen Gut, an dem wir Alle gleichen Teil haben, arm und reich, groß und klein und jung und alt. Wer nun Volksart und Volksgesang belauschen will, darf nicht auf dem Pflaster der Stadt bleiben: auf dem Land, beim Spinnrade, beim Pflug und der Sense erklingt das Volkslied erst hell und rein. Allein unsre anspruchslose Arbeit hier, die nicht im Dienste der strengen Volkskunde steht, ist zu nächst der Jugenderinnerung unsrer verehrten Mitbürger und Mitbürgerinnen geweiht und soll ihnen zeigen, wie diese Reime fast eine kleine Welt wiederspiegeln, wie sie manche hübsche Weisheit und gute Neckerei enthalten und wie gar manches Liedlein, jetzt dumm und kaum verständlich , ein sinnvolles Glied ist der alten deutschen Volksdichtung. —
In Neapel springen die Kinder bei schlechtem Wetter auf die Straße und singen zur Sonne hinauf:
Jesce, jesce Sole, Scajenta Mperatore!
d. h. Komm, komm hervor, o Sonne, erwärme unsern Kaiser! Gewiß fällt Manchem da unser lieber Kasseler Reim ein, der auch jetzt noch, wenn droben die Sonne mit den Regenwolken kämpft, unten aus so vielen kleinen Kehlen ertönt:
Liebe, liebe Sonne, Komm‘ en bischen runter
Mit der goldnen Krone, Laß den Regen oben!
Einer schließt den Himmel auf, Kommt die liebe Sonne raus.
Und wirklich, der Sammler neapolitanischer Kindersprüche, Galiani, bemerkt zu diesem Liedchen der neapolitanischen Kinder: „Wir glauben, es ist aus der Zeit des Kaisers Friedrich II.“ Als dieser glänzende, tatkräftige Hohenstaufe, an dessen Tod (1250) sich zuerst die Sage vom schlafenden, einst wiederkommenden Kaiser wob mit seinen Deutschen durch Neapel kam, da mögen es wohl die Kinder Neapels von den blonden Jungen vom Rhein und der Weser aufgeschnappt haben, aber der Wetterherr, der droben den Himmel ausschließt und die Sonne mit ihrer goldnen Krone herausläßt, hat sich im Munde der kleinen Italiener in den Kaiser verwandelt, für den sie nun heilspendendes Sonnenlicht herabflehen.
Volksmusik: Volksliedbücher
Liederzeit: 1871-1918: Deutsches Kaiserreich
Ort: Hessen
Siehe dazu auch:
- Allgemeines Schweizer Liederbuch (Vorwort, 1828) ()
- Allgemeines Schweizer Liederbuch (Vorwort, 1833) ()
- Als der Großvater die Großmutter nahm (Auflage 1922) ()
- Die Bedeutung des Liedes für die Auswanderung (Auswandererlieder)
- Einleitung: Demokratische Volkslieder ()
- Geschichtliche Entwicklung der Heimathymnen ()
- Kinderlieder ()
- Ministerium stoppt Bundeswehr-Liederbuch ()
- Mitteilung über das niederdeutsche Volkslied „Burlala“ (=Peterlein) ()
- Neue Soldaten- und Marschlieder (1916) (Allgemein)
- Schlesische Volkslieder (1842): Vorwort ()
- Schlesische Volkslieder: Vorwort von Ernst Richter ()