Vorwort zu „Deutsche Weihnachtslieder“ (Simrock)
Karl Simrock (in: „Deutsche Weihnachtslieder“ (Eine Festgabe))
Wie ähnlich ist das der Schilderung des Tacitus von dem Feste der Nerthus, welche deutsche Völker als Mutter Erde verehrten, derselben Göttin, die bei den Römern als Ops für Saturns Gattin galt. Wenn Nerthus unter die Völker auszog, ihnen Frieden und Fruchtbarkeit zu bringen, dann waren frohe Tage. Alles schmückte sich festlich, wo sie einzukehren würdigte; der Krieg ruhte, die Waffen schwiegen, alles Eisengerät ward verschlossen: Frieden und Ruhe walteten, bis der Priester die des Umgangs mit den Sterblichen ersättigte Göttin dem Heiligtum zurückgab.
Dass dieses Fest um die Winter-Sonnenwende begangen wurde, darauf deutet, dass der nordische Njördr, den wir schon des verwandten Namens wegen als ihren Gemahl auffassen müssen, dem Saturn entspricht. Auch Er hatte die Menschen in Ackerbestellung und Weinbau unterrichtet, und die Schweden glaubten, er gebiete über die Jahresernte und den Wohlstand der Menschen. Als Gemahl der Göttermutter, die mit der Mutter Erde zusammenfiel, hatte er die Sonne in Gestalt eines Eberbildes zum Symbol und so ist auch sein Sohn Freyr oder Fro als Sonnengott aufzufassen.
Mit den Saturnalien war in der spätern Zeit das Mithrasfest verbunden, ein ursprünglich orientalischer, persischer Dienst. Als Sol invictus, dessen Fest um die Zeit des kürzesten Tages begangen wurde, muss auch Mithras ein Sonnengott gewesen sein. Es wird berichtet, in Roms Katakomben sei eine Steinplatte gefunden worden, welche die Geburt des Sonnengottes Mithras darstellen sollte. Ein Ochse und ein Esel stehen am Lager des neugeborenen Gottes. Die Berührung mit dem Christentum wäre zu auffallend, wenn nur ein Zufall gewaltet hätte. Nach Preller Röm. Myth. 759, brachte es der letzte und schon verzweifelte Kampf des Heidentums mit dem Christenthum mit sich, dass die Anhänger jenes sich vorzüglich solchen Mysterien anschlossen, welche mit dem Christentum eine gewisse äußere Ähnlichkeit zeigten.
Wir könnten die Geburt des Osiris herbeiziehen, könnten die Freude über die Wiedergeburt der Sonne und das erneute Natur- und Pflanzenleben von Island, ja von Grönland bis Japan verfolgen; wir würden aber überall demselben Gedanken begegnen, in allen diesen Jahresfesten die gleiche Vorstellung walten sehen. Jedoch am stärksten spricht sich das Naturgefühl bei den Germanen aus; freilich war auch bei ihnen der Unterschied der Jahreszeiten am größten.
Der Winter erschien ihnen als ein gramherziger menschenfressender Riese: er ist es, welchen das deutsche Märchen durch die dem Leser gewiss unvergessenen Worte: „ich rieche, rieche Menschenfleisch“ kennzeichnet. Die Riesen sind überhaupt die Feinde der Götter und Menschen, welchen sie Sonne und Mond, diese freundlichen Himmelslichter, nicht gönnen, wie sie auch der schönen Frühlingsgöttin Freyja nachstellen, weniger weil sie selbst nach ihrem Besitz verlangte, als um die Welt in Nacht und Frost zu versenken und alles Leben zum Erstarren zu bringen. Alle verderblich wirkenden Naturerscheinungen, alle zerstörenden Kräfte werden in ihnen angeschaut, besonders aber die kalten Winterstürme, welche Eis und Hagelschauer herbeiführen und das schon erwachende Pflanzenleben noch ferner unter der rauen Winterhülle gefangen halten.
Uns moderne Treibhauspflanzen, die wir im Winter hinter doppelten Fenstern einen künstlichen Sommer genießen, hat die Kultur gegen den Unterschied der Jahreszeiten gleichgültiger gemacht: jene naturgemäß lebenden Völker empfanden ihn in seiner ganzen Schwere. Der lange Winter hemmte allen Verkehr, alles Leben schien eingefroren und wenn die für den Sommer aufgespeicherten Vorräte nicht mehr reichten, so stand die Hungersnot vor der Türe, da nur bevorrechteten Ständen die Jagd noch eine Auskunft bot. So ward dieser Winter wirklich meschenfresserisch und die Freude des Volks ist begreiflich, wenn Boten des Frühlings ihm baldige Erlösung verhießen. Da tanzte man um das erste Veilchen, der erste Maikäfer ward festlich ein- geholt und kam der Mai selber, so zog man ihm in feierlichem Aufzug entgegen in den Wald, um ihn zu empfangen, d. h. ihn zu begrüßen und zu bewillkommnen.
Sumer, wis enphangen von mir hundert tûsent stunt singt noch Nithart, bei dem sich dies Naturgefühl wieder stärker ausspricht, als bei den frühern Minne-Dichtern, die sich von dem Leben des Volks abgekehrt und gleichsam in die Tiefe der eigenen Brust zurück gezogen hatten. Der altüberlieferten Sitte, das Lied mit Sommer und Winter zu beginnen, wendet er sich mit Bewusstsein wieder zu, ja seine Gedichte zerfallen in Sommer- und Winterlieder, die so ganz verschiedene Gattungen bildeten, dass sie weder Inhalt noch Form gemein hatten.
Volksmusik: Volksliedbücher, Volksmusik Praxis
Siehe dazu auch:
- Allgemeines Schweizer Liederbuch (Vorwort, 1828) ()
- Allgemeines Schweizer Liederbuch (Vorwort, 1833) ()
- Als der Großvater die Großmutter nahm (Auflage 1922) ()
- Die Bedeutung des Liedes für die Auswanderung (Auswandererlieder)
- Einleitung: Demokratische Volkslieder ()
- Geschichtliche Entwicklung der Heimathymnen ()
- Kinderlieder ()
- Ministerium stoppt Bundeswehr-Liederbuch ()
- Mitteilung über das niederdeutsche Volkslied „Burlala“ (=Peterlein) ()
- Neue Soldaten- und Marschlieder (1916) (Allgemein)
- Schlesische Volkslieder (1842): Vorwort ()
- Schlesische Volkslieder: Vorwort von Ernst Richter ()