Vorwort zu „Deutsche Weihnachtslieder“ (Simrock)

Karl Simrock (in: „Deutsche Weihnachtslieder“ (Eine Festgabe))

Von Sommer und Winter zieht uns ein verwandter Gegensatz ab, der einer lichtern und dunklern Jahreshälfte. Sie waren durch die Sonnenwenden geschieden, und zwar galt die Zeit des abnehmenden Lichts, von der Sommer- zur Wintersonnenwende, für die dunkle, die des zunehmenden, von Weihnachten bis Johannis, für die lichte Seite des Jahres. So groß war die Freude über die Erneuerung des Lichts und die längenden Tage, dass man diese Jahreshälfte für hell, die andere für dunkel ausgab, obgleich in der Tat Licht und Dunkel gleich zwischen ihnen verteilt war.

Der Wahrheit näher stand es, wenn man die beiden Götter, in welchen diese Jahreshälften persönlich angeschaut wurden, als gleiche Brüder, als Freunde auffasste, während sie ein andermal einander höchst unähnlich, der eine schön, der andere hässlich, erschienen. In der deutschen Mythe werden sie sogar als Feinde, ja der eine als des andern Mörder dargestellt: der blinde Hödur tötet den lichten Baldur: er fällt auf dem Gipfel seines Siegs, im höchsten Glanz des von ihm gespendeten Sonnenlichts, beim Feste der Sommersonnenwende.

Die Zeit des zunehmenden Lichts ist vorüber und mit der abwärts neigenden Sonne beginnt die Herrschaft des blinden Hödur und währt bis Weihnachten: da wird Wali geboren, der Rächer Baldurs, der noch keinen Tag alt sogleich zum heiligen Werk der Rache schreitet: er wäscht die Hand nicht, er kämmt nicht das Haar, bis er den Mörder Baldurs zum Holzstoß trug, zu dem Scheiterhaufen, der in den Weihnachtsfeuern wiederstrahlt.

In Baldurs Tode hatte Götter und Menschen der empfindlichste Verlust betroffen. Der Schmerz über den Tod des schönsten und mildesten der Asen hat sich der Mythe so tief eingeprägt, dass ihr das Bewusstsein entsank, Baldur sterbe alljährlich und alljährlich nehme Wali an dem blinden Hödur Rache für seinen Tod. Baldur schien jetzt ein für allemal gestorben, der Welt unwiederbringlich verloren: erst in der erneuerten Welt sollte er aus Hels Hause zurückkehren und ein neues Lichtreich beherrschen.

Stärker konnte sich die Furcht und Abneigung vor dem Winter und seinen Schrecken nicht aussprechen, als indem man ihn als den Tod der Natur fasste, wie das sowohl in dem Mythus von Baldur als in dem von Idunn, der Göttin des Sommergrüns in Gras und Laub, geschah.

Mit Baldurs Tod, um die Sommersonnenwende, beginnen die Tage zu kürzen; der Mythus vergisst, dass sie mit der Wintersonnenwende wieder längen. Baldurs beunruhigende Träume erfüllen die Götter mit bangen Ahnungen: mit seinem Tode aber stellt sich ihnen der unvermeidliche Untergang vor Augen. Und als Idunn, das grüne Sommerlaub, von der Weltesche gesunken ist, und der Weltbaum entblättert dasteht, fühlen sie er- schreckt den Winter eintreten und zweifeln, ob der Sommer je wiederkehre.

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