Ein deutsches Volkslied (Wir versaufen unser Oma)

Kurt Tucholsky (in: Die Weltbühne, 14.12.1922, Nr. 50, S. 623.)

Denn es ist dem Liedersänger entgangen, daß die Hypothek selbst ja eine Schuld ist, die man unmöglich vertrinken kann – meint er doch wahrscheinlich die für die eingetragene Hypothek als Darlehn gegebene Summe, die der Schuldner in leichtfertiger Weise verbraucht. So singt das Volk. Hier spricht die Seele deines Volkes. Hier ist es ganz. Es soll uns nicht wunder nehmen, wenn nächstens in einem schlichten Volkslied das Wort „Teuerungszulage“ oder „Weihnachtsgratifikation“ vorkommt – denn dies allein ist heute echte, unverlogene Lyrik.

Dichter umspannen die Welt in brüderlicher Liebe, Poeten sehen Gott in jedem Grashälmchen – das ehrliche Volk aber gibt seinen Gefühlen unverhohlen Ausdruck. Noch lebt es von den Gütern der Alten. Langsam trägt es Sommerüberzieher, Sofas, Überzeugungen und Religionen auf – neue schafft es zur Zeit nicht an. Was dann geschieht, wenn die alle dahin sind, darüber sagt das Lied nichts. Vorläufig sind sie noch da – und so lange sie noch da sind, lebt das Volk von der Substanz.
Und versauft der Oma sein klein Häuschen.

Kurt Tucholsky alias Peter Panter in:  Die Weltbühne, 14.12.1922, Nr. 50, S. 623.
Dieses Lied ist wiederum ein Schritt zum späteren Kinderlied „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“

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