Märchen vom Machandelboom (Mahandel Bohm)

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Da kam der Vater nach Hause und setzte sich zu Tisch und sagte: „Wo ist denn mein Sohn?“ Da trug die Mutter eine grosse, grosse Schüssel mit Schwarzsauer auf, und Marlenchen weinte und konnte sich nicht halten. Da sagte der Vater wieder: „Wo ist denn mein Sohn?“ – „Ach,“ sagte die Mutter, „er ist über Land gegangen, zu den Verwandten seiner Mutter; er wollte dort eine Weile bleiben.“ – „Was tut er denn dort? Er hat mir nicht mal Lebewohl gesagt!“ – „Oh, er wollte so gern hin und bat mich, ob er dort wohl sechs Wochen bleiben könnte; er ist ja gut aufgehoben dort.“ – „Ach,“ sagte der Mann, „mir ist so recht traurig zumute; das ist doch nicht recht, er hätte mir doch Lebewohl sagen können.“ Damit fing er an zu essen und sagte: „Marlenchen, warum weinst du? Der Bruder wird schon wiederkommen.“ –

„Ach Frau,“ sagte er dann, „was schmeckt mir das Essen schön! Gib mir mehr!“ Und je mehr er ass, um so mehr wollte er haben und sagte: „Gebt mir mehr, ihr sollt nichts davon aufheben, das ist, als ob das alles mein wäre.“ Und er ass und ass, und die Knochen warf er alle unter den Tisch, bis er mit allem fertig war. Marlenchen aber ging hin zu ihrer Kommode und nahm aus der untersten Schublade ihr bestes seidenes Tuch und holte all die Beinchen und Knochen unter dem Tisch hervor und band sie in das seidene Tuch und trug sie vor die Tür und weinte blutige Tränen.

Dort legte sie sie unter den Machandelbaum in das grüne Gras, und als sie sie dahin gelegt hatte, da war ihr auf einmal ganz leicht, und sie weinte nicht mehr. Da fing der Machandelbaum an, sich zu bewegen, und die Zweige gingen immer so voneinander und zueinander, so recht, wie wenn sich einer von Herzen freut und die Hände zusammenschlägt.

Dabei ging ein Nebel von dem Baum aus, und mitten in dem Nebel, da brannte es wie Feuer, und aus dem Feuer flog so ein schöner Vogel heraus, der sang so herrlich und flog hoch in die Luft, und als er weg war, da war der Machandelbaum wie er vorher gewesen war, und das Tuch mit den Knochen war weg. Marlenchen aber war so recht leicht und vergnügt zumute, so recht, als wenn ihr Bruder noch lebte. Da ging sie wieder ganz lustig nach Hause, setzte sich zu Tisch und ass. Der Vogel aber flog weg und setzte sich auf eines Goldschmieds Haus und fing an zu singen:

„Mein Mutter die mich schlacht
mein Vater der mich ass
mein Schwester die Marlenichen
sucht alle meine Benichen
bindt sie in ein seiden Tuch
legt’s unter den Machandelbaum
Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!“

Der Goldschmied sass in seiner Werkstatt und machte eine goldene Kette; da hörte er den Vogel, der auf seinem Dach sass und sang, und das dünkte ihn so schön. Da stand er auf, und als er über die Türschwelle ging, da verlor er einen Pantoffel. Er ging aber so recht mitten auf die Strasse hin, mit nur einem Pantoffel und einer Socke; sein Schurzfell hatte er vor, und in der einen Hand hatte er die goldene Kette, und in der anderen die Zange; und die Sonne schien so hell auf die Strasse.

Liederzeit: vor 1808 :

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