„Mein Mutter die mich schlacht,“ da hörte einer auf; „mein Vater der mich ass,“ da hörten noch zwei auf und hörten zu; „mein Schwester die Marlenichen“ da hörten wieder vier auf; „sucht alle meine Benichen, bindt sie in ein seiden Tuch,“ nun hackten nur acht; „legt’s unter,“ nun nur noch fünf; „den Machandelbaum“ – nun nur noch einer; „Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!“ Da hörte der letzte auch auf, und er hatte gerade noch den Schluss gehört.
„Vogel,“ sagte er, „was singst du schön!“ Lass mich das auch hören, sing mir das noch einmal!“ – „Nein,“ sagte der Vogel, „zweimal sing ich nicht umsonst; gib mir den Mühlenstein, so will ich das noch einmal singen.“ – „Ja,“ sagte er, „wenn er mir allein gehörte, so solltest du ihn haben.“ – „Ja,“ sagten die anderen, „wenn er noch einmal singt, so soll er ihn haben.“ Da kam der Vogel heran und die Müller fassten alle zwanzig mit Bäumen an und hoben den Stein auf, „hu uh uhp, hu uh uhp, hu uh uhp!“ Da steckte der Vogel den Hals durch das Loch und nahm ihn um wie einen Kragen und flog wieder auf den Baum und sang:
„Mein Mutter die mich schlacht
mein Vater der mich ass
mein Schwester die Marlenichen
sucht alle meine Benichen
bindt sie in ein seiden Tuch
legt’s unter den Machandelbaum
Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!“
Und als er das ausgesungen hatte, da tat er die Flügel auseinander und hatte in der echten Kralle die Kette und in der linken die Schuhe und um den Hals den Mühlenstein, und flog weit weg zu seines Vaters Haus.
In der Stube sass der Vater, die Mutter und Marlenchen bei Tisch, und der Vater sagte: „Ach, was wird mir so leicht, mir ist so recht gut zumute.“ – „Nein,“ sagte die Mutter, „mir ist so recht angst, so recht, als wenn ein schweres Gewitter käme.“ Marlenchen aber sass und weinte und weinte. Da kam der Vogel angeflogen, und als er sich auf das Dach setzte, da sagte der Vater: „Ach, mir ist so recht freudig, und die Sonne scheint so schön, mir ist ganz, als sollte ich einen alten Bekannten wiedersehen!“ –
„Nein,“ sagte die Frau, „mir ist angst, die Zähne klappern mir und mir ist, als hätte ich Feuer in den Adern.“ Und sie riss sich ihr Kleid auf, um Luft zu kriegen. Aber Marlenchen sass in der Ecke und weinte, und hatte ihre Schürze vor den Augen und weinte die Schürze ganz und gar nass.
Da setzte sich der Vogel auf den Machandelbaum und sang: „Meine Mutter die mich schlacht“ – Da hielt sich die Mutter die Ohren zu und kniff die Augen zu und wollte nicht sehen und hören, aber es brauste ihr in den Ohren wie der allerstärkste Sturm und die Augen brannten und zuckten ihr wie Blitze. „Mein Vater der mich ass“ – „Ach Mutter,“ sagte der Mann, „da ist ein schöner Vogel, der singt so herrlich und die Sonne scheint so warm, und das riecht wie lauter Zinnamom.“ (Zimt)
„Mein Schwester der Marlenichen“ – Da legte Marlenchen den Kopf auf die Knie und weinte in einem fort. Der Mann aber sagte: „Ich gehe hinaus; ich muss den Vogel in der Nähe sehen.“ – „Ach, geh nicht,“ sagte die Frau, „mir ist, als bebte das ganze Haus und stünde in Flammen.“ Aber der Mann ging hinaus und sah sich den Vogel an – „sucht alle meine Benichen, bindt sie in ein seiden Tuch, legt’s unter den Machandelbaum. Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!“
